Die Kritik an der herrschenden Rationalität – benannt als Neoliberalismus oder Kapitalismus – scheint fast so hegemonial wie das Kritisierte selbst. Eine Verteidigung des Kapitalismus, wie sie in Zeiten des kalten Krieges in Form eines marktwirtschaftlichen Fundaments noch formuliert wurde, erschöpft sich gegenwärtig scheinbar in der herbeigeredeten «Alternativlosigkeit». Die Verteidigung wurde aufgegeben zugunsten einer umhinterfragten Realität, an die sich das Individuum anzupassen hat: Die Ratgeberliteratur, die nicht predigt, was richtig ist, sondern sich darauf beschränkt zu vermitteln, wie man damit klarkommt.
Doris Märtin macht das auf besonders eindrucksvolle Weise, denn in ihrem Ratgeberbuch «Habitus – Sind Sie bereit für den Sprung nach ganz oben?» (Campus Verlag, Frankfurt am Main, 2019) beschreibt sie nicht nur die Bedeutung von kulturellem, sozialem, materiellem und anderem Kapital, sondern hält auch fest, dass ein bedeutender Teil davon vererbt wird, also die soziale Mobilität eingeschränkt ist beziehungsweise deren Verteilung und die daraus folgenden Konsequenzen für den sozioökonomischen Status unfair sind: «Wer den gehobenen Habitus der oberen 10 Prozent, noch besser der oberen 3 Prozent besitzt, hebt sich ab. Wer nicht, der nicht. Das ist ungerecht. Aber wahr», schreibt Märtin beispielsweise (S. 13). Ihre Antwort auf diese «Wahrheit»: Die Funktionsweise des Systems kennen, um dieses Wissen für den eigenen Vorteil ausnutzen zu können. Sie will vermitteln, wie man sich den Habitus der Bessergestellten aneignet, um dazugehören zu können.
Ohne dafür etwas aufzuopfern geht das nicht: «Das ist der Preis der Zugehörigkeit: Den herrschenden Stil, die Rituale und Sprüche der Insider mitzumachen, mindestens aber nicht infrage zu stellen», erklärt Märtin (S. 116). Und weiter: «Die Regeln lockern sich erst, wenn die Etablierten in der Runde Vertrauen in Sie gefasst haben: Sie passen dazu. Sie wissen, was zählt. Sie haben den gefragten Habitus verinnerlicht. Von jetzt an wirkt der Bruch von Regeln nicht mehr daneben.» Aber was heisst verinnerlichen? Wenn man – wie Märtin vorschlägt – «im Herrenclub die leisen Anzüglichkeiten zu hinterfragen» unterlässt (ebd.) und diesen Habitus verinnerlicht, kann das gelingen, ohne sexistisch zu werden? Im Herrenclub werden selbstverständlich nur Männer dazu angehalten, sich nicht gegen Anzüglichkeiten zu wehren. Unklar ist, wie Frauen mit (latentem) Sexismus oder People of Colour mit (unterschwelligem) Rassismus umgehen sollen. Märtin formuliert zwar die Einschränkung, bei Ritualen nur mitzumachen, «sofern sie nicht gegen Ihre Werte verstoßen». Doch eine Aufforderung scheint ziemlich absolut: «hinterfragen Sie nichts» (S. 115).
Wie sehr das (gesellschaftlich) schädlich sein kann, räumt Märtin mit Verweis auf den Dieselskandal selbst ein (S. 232). Dazu zitiert sie den «Managementquerdenker» Peter Kreuz: «Die Systemkonformen, die sich geschmeidig an die herrschende Ordnung anpassen, rutschen am besten durch den Flaschenhals bis an die Spitze. Wer selbstbestimmt handelt, eine abweichende Meinung hat oder es wagt, Konventionen zu hinterfragen, gilt schnell als Wurzel allen Übels.» (S. 232 f.) Und im Interview erklärt Jan Schaumann, Unternehmensberater in Fragen der Kommunikation: «Der Whistleblower wird aus dem illustren Kreis schneller ausgestoßen als er „aber“ sagen kann.» (S. 248) [Was diese Logik bedeutet, zeigt Nils Melzer in «Der Fall Julian Assange – Geschichte einer Verfolgung» (Piper, München, 2021). Verfolgt wird derjenige, der die Verbrechen aufdeckt und nicht die Verantwortlichen für Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen. Da mag Ex-Präsident Barack Obama noch so distinguiert erscheinen.] Mit Extremen geht Märtin denn auch hart ins Gericht: «Ambition braucht Aggression. Alphatier zu werden und zu bleiben, geht nicht im Wollwaschgang. Ehrgeiz und Hartnäckigkeit dürfen aber nicht gleichbedeutend mit Egomanie, Narzissmus oder psychopathologischen Verhaltensmustern sein.» (S. 268) Wie verhält es sich dann aber mit Ungerechtigkeiten, die weniger brutale Folgen haben, unter anderem Lobbying, zum Beispiel für den «Schutz» vor Besteuerung durch Familienstiftungen?
Aus welcher Perspektive Märtin schreibt, wird gegen Ende des Buches deutlich: «Gewiss ist der Familiensinn der Oberschicht ebenso wenig ausschließlich dem Gemeinwohl verpflichtet wie ihr gesellschaftlicher Einsatz. Nur um Eitelkeit, Selbstdarstellung und Status geht es aber auch nicht. Eher könnte man von einer Win-Win-Situation für Ego und Gesellschaft sprechen», behauptet Märtin (S. 274). Zwar gibt es eindrucksvolle Beispiele von Philanthrop*innen – die es in jeder Gesellschaftsschicht gibt, was besonders Mutter Theresa gezeigt hat. Wahrscheinlich geben die Oberen von heute, die in einer liberal-demokratisch legitimierten Gesellschaft leben, auch mehr an die Gesellschaft zurück als die Eliten einer religiös legitimierten Standesgesellschaft. Doch soll das als Vergleich dienen, damit man von Gewinn für beide sprechen kann, für die Oberschicht und die Gesellschaft? Eine alternative Gesellschaft ist auch gar nicht Thema und es bleibt einfach eine Behauptung, eine Rechtfertigung, bei der sie dem eigenen Anspruch, sich klar auszudrücken (S. 242) nicht ganz gerecht wird, da wie erwähnt der Vergleichspunkt fehlt.
Aber gerade an dieser Stelle ist wohl die Aufforderung zum Nicht-hinterfragen verortet: bei der Klassengesellschaft. Es ist eine Tatsache, dass in unserer Wirklichkeit ungerechte Verhältnisse bestehen. Doch angesichts der (durchaus zwiespältigen) Erfolge scheint es möglich, andere «Wahrheiten» hervorzubringen. (Zwiespältig deshalb, da Erfolgen wie einem Fortschritt bezüglich Geschlechtergerechtigkeit insbesondere die Generationengerechtigkeit aufgrund des Klimawandels stark gefährdet scheint.) Der Preis des sozialen Wandels ist bekannt: Es braucht mutige Menschen, die auf Missstände hinweisen und daraus resultierende Unannehmlichkeiten hinnehmen – je nachdem reichen diese von ausbleibender Anerkennung bis zur Ermordung. Und es braucht eine gesellschaftliche Debatte.
Erstaunlich an diesem Buch ist besonders eine Bemerkung zum Buch von Rainer Wälde, Vorsitzender Deutscher Knigge-Rat, auf dem Buchrücken: «Ein lesenswerter Buchgenuss und eine Steilvorlage für den gesellschaftlichen Diskurs.» Welche Art gesellschaftlichen Diskurses, der auf diesem Buch als Input aufbauen sollte, erwartet Wälde? Sollten wir uns darüber unterhalten, ob es sinnvoll ist, wenn alle sich darauf konzentrieren, sich den herrschenden Gepflogenheiten anzupassen – ob letztlich jeglicher gesellschaftlicher Diskurs über die Rahmenbedingungen abgeschafft werden sollte? Dann sollte man gar nicht erst diskutieren. Genau das scheinen diejenigen zu tun, die sich an der herrschenden Rationalität orientieren: Eine tatsächliche Auseinandersetzung mit Kapitalismuskritik findet bei den Apologeten des Kapitalismus kaum statt. Die Idee des neoliberalen Subjekts findet keine Verbreitung mehr über einen gesellschaftlichen Diskurs. Dieses Subjekt wird geschaffen, indem es als solches angesprochen wird. (Ratgeberbücher sind deshalb nicht grundsätzlich gesellschaftlich irrelevant, wenn sie beispielsweise aufzeigen, wie man die eigenen sexistischen oder rassistischen – unbewussten – Vorurteile zu erkennen lernt. Und selbstverständlich müssen die Ratschläge nicht falsch sein – ebensowenig wie jene von Machiavelli, «machiavellistisch» zu handeln, um in einer gegebenen Situation «erfolgreich» zu sein.)
Der real existierende Kommunismus hat sich selbst diskreditiert, der real existierende Kapitalismus hat dies auch schon des öfteren geschafft (besonders deutlich als nach dem Verbot der Sklaverei ehemalige Sklaveneigentümer*innen für die Enteignung entschädigt wurden, während diejenigen, denen die Freiheit, die Arbeitskraft, die körperliche Unversehrtheit, ja letztlich alles gestohlen wurde, keine Entschädigung erhalten haben). Ebenso wie im Kommunismus funktioniert der Kapitalismus (hauptsächlich) für die Eliten. Die breite Gesellschaft hat hierzulande zum Glück die Demokratie als Korrektiv – wie das chinesische Modell (noch deutlicher als früher beispielsweise das chilenische) beweist, braucht der Kapitalismus keine Demokratie – was gesellschaftliche Debatten über die Rahmenbedingungen ermöglicht, ohne das Leben riskieren zu müssen. Doch wenn im Alltag der Habitus einer gehobenen Gesellschaft angenommen wird – man ihn nicht nur simuliert (was ausgesprochen anstrengend wäre) sondern internalisiert –, um an der Spitze der Gesellschaft teilnehmen zu können, dann wird man im politischen Leben kaum in der Lage sein, sich davon zu lösen und entsprechend auf eine positive gesellschaftliche Entwicklung hinzuwirken. Wenn sich die Menschen zu kapitalistischen Subjekten machen, wird sich das Recht des Stärkeren durchsetzen, wozu der Kapitalismus führt, wenn es eben nicht Menschen gibt, die darauf beharren, dass sich – gegebenenfalls auch – der (klassistische) Habitus der Oberschicht ändert.
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