Etikette und Anstand, Respekt und politische Korrektheit – weshalb man Arschloch sein aber niemanden als solches bezeichnen darf

Regeln darüber, wie Menschen miteinander umzugehen haben, lassen sich idealerweise gemäss ihrer Universalität ordnen. Viele Regeln sind bekanntermassen kulturabhängig. Beispielsweise unterscheiden sich Begrüssungsregeln von einer sozialen Gruppe zur nächsten oder von einer Ethnie zur anderen. Viele Regeln, welche es zu befolgen gilt, sind reine Konvention oder mit anderen Worten willkürlich. In vielen Fällen ist nur schwer zu begründen, weshalb eine andere Verhaltensweise als die sogenannt «anständige» geächtet oder anders negativ sanktioniert werden sollte. Die Behauptung, etwas gehöre sich nicht, ist keine Begründung. Im schlimmsten Fall dient Etikette dazu, soziale Unterschiede sichtbar zu machen und möglicherweise damit sogar soziale Ausgrenzung oder Benachteiligung zu rechtfertigen. Bei manchen Benimmregeln ist schwer zu ergründen, welche andere Funktion diese Regeln haben könnten. (Beispielsweise ist die Funktion von verschiedenen Kleiderordnungen, insbesondere Business-Dress, zu signalisieren, dass man angepasst ist.)

Den Anspruch auf Universalität von bestimmten Regeln plausibel zu machen ist keine leichte Aufgabe. Die Forderung nach Respekt im Umgang miteinander kann solche Universalität wohl vor allem deshalb für sich beanspruchen, da er inhaltlich weit weniger konkret ist als andere Institutionen. Etwas konkreter lässt sich die politische Korrektheit fassen. Hier soll weniger auf die Verwendung bestimmter Ausdrücke Bezug genommen werden. Insbesondere am Begriff «Afroamerikaner» lässt sich zeigen, dass es sich auch bei bestimmten Elementen politischer Korrektheit um Konventionen handeln kann. Denn einem Mann ist nicht anzusehen, welche Staatsangehörigkeit er innehat oder wo er aufgewachsen ist. Vielmehr geht es darum, welcher Umgang mit Begriffen in Verbindung steht – und damit auch, welche Erkenntnisse einem Verhalten zugrundeliegen. Politisch korrekt heisst in diesem Sinne, keine (negativen) Aussagen über Gruppen von Menschen zu treffen, die nicht wissenschaftlich belegt sind – ganz abgesehen davon, diesen Unterschied als entscheidend für die soziale Stellung zu werten. Besonders prominent ist die Entlarvung rassistischer Vorurteile, die nach politischer Korrektheit verlangen.
Meinung und Fakt
Eine Tabuisierung ist selbstverständlich immer problembehaftet. Aufgrund der behaupteten und durch die Realität widerlegten Unterschiede zwischen verschiedenen Gruppen dürfte die Annahme der Gleichwertigkeit jedoch vorerst glaubwürdiger sein. Es dürfte klar sein, dass Behauptungen über Einzelpersonen den Fakten entsprechen müssen. Üble Nachrede, Verleumdung oder Beleidigung sind schon lange Tatbestände des liechtensteinischen Strafrechts. Diskriminierung als Straftatbestand ist dagegen viel jüngeren Datums. Immerhin hat sich hierzulande die Überzeugung durchgesetzt, dass auch bei Gruppen eine negative Beurteilung eines Beweises bedarf. Dem entgegen steht jedoch häufig ein Interesse, die eigene (soziale) Gruppe als überlegen wahrzunehmen. Entsprechend wird die Forderung nach politischer Korrektheit als Einschränkung der Meinungsfreiheit behauptet. Widerspricht eine Äusserung den Fakten, ist das aber keine Meinungsäusserung, sondern eine Verbreitung von Unwahrheiten. Auch wenn das mit der Wahrheit ebenfalls eine schwierige Sache ist, führt doch kein Weg daran vorbei. Bei wem die Beweislast liegen sollte, dürfte jedoch klar sein.
Vor allem die Bedeutung historischer Entwicklung wird jedoch nicht verstanden oder bewusst missachtet. In den USA befinden sich auf 100’000 Afroamerikaner über 1’600 Afroamerikaner im Gefängnis. Auf 100’000 weisse Einwohner kommen weniger als 300 weisse Gefängnisinsassen. Aus der Korrelation auf einen ursächlichen Zusammenhang zu schliessen ist jedoch ein Fehlschluss. Vielmehr sind es soziale Unterschiede – möglicherweise neben immer noch bestehenden rassistischen Verhaltensweisen der Strafverfolgungsbehörden –, die zu diesen Unterschieden führen. Einzugestehen, dass soziale Nachteile von Generation zu Generation weitergegeben werden und die Afroamerikaner*innen von heute – im Durchschnitt – immer noch unter dem Rassismus von früher zu leiden haben, fällt jedoch vielen schwer. Ebenso fällt es den Europäern schwer, Verantwortung für die Folgen von in ehemaligen Kolonien begangenen Verbrechen zu übernehmen.
Worte und Inhalt
Negativ zu beurteilendes Verhalten der Kultur zuzuschieben ist zum grössten Teil äquivalent einem Euphemismus für Rassismus. Denn kaum eine Kultur hatte die Möglichkeit, sich unabhängig von der westlichen Kultur zu entwickeln, einer Kultur durch ein Überlegenheitsdenken geprägt, das sich mit Überlegenheit der Kriegstechnologie Geltung verschaffen wollte. Gleiches gilt für die Stellung von Frauen, beispielsweise den Lohnunterschied. Zu behaupten, Frauen würden eher Berufe wählen, die weniger hoch bezahlt sind, ist eine Umkehrung der tatsächlichen Begebenheiten. Die von Frauen gewählten Berufe erhalten weniger gesellschaftliche Anerkennung und deshalb werden sie auch schlechter bezahlt. Es ist die libertäre Ideologie, die diesen Umstand leugnet. Wäre der Markt in der Lage, bei rechtlicher Gleichheit gesellschaftliche Unterschiede, die nicht in der Leistung der Menschen liegen – umgehend, eine andere Zeitrechnung kennt der Markt nicht – aufzuheben, dürften Aussagen, die als politisch unkorrekt gelten, tatsächlich getätigt werden. Dann könnte behauptet werden, Schwarze würden über eine höhere kriminelle Energie verfügen oder Frauen wären weniger leistungsfähig und/oder -willig als die weissen Männer.
In diesem Zusammenhang ist dies deshalb wichtig festzuhalten, da der respektvolle Umgang miteinander eben eigentlich weniger mit Etikette zu tun haben sollte. Mit Anstand im Umgang kann Respektlosigkeit in der Tat nicht wettgemacht werden. Wenn Menschen in freundlichen Worten klar gemacht wird, dass das ihnen gerechtgerweise Zustehende vorenthalten wird, ist der freundliche Ton ein Hohn. Den Afroamerikaner*innen die «Schuld» an ihrer sozioökonomisch schlechteren Position als den Weissen zuzuschreiben ist nichts anderes als Rassismus.
Eigenwahrnehmung und -prüfung
Jene, die nicht als Rassisten gelten beziehungsweise sich selbst nicht als Rassisten wahrnehmen wollen, sich quasi anständig verhalten wollen, daraus aber nicht die entsprechenden Konsequenzen ziehen, zollen der Situation der Afroamerikaner*innen nicht den Respekt, den sie verdienen. Sie verhalten sich respektlos, wenn auch vielleicht der Etikette entsprechend. Analoges lässt sich im Zusammenhang mit Sexismus sagen. Die Konsequenzen tragen wollen viele jedoch nicht, da sie entweder Privilegien aufgeben oder ihr Selbstbild revidieren müssen. Entweder müssen sie eingestehen, dass sie durch die Benachteiligung anderer Gruppen besser dastehen und deshalb die eigene privilegierte Position als ungerechtfertigt anerkennen und mithin Massnahmen befürworten, die für einen Ausgleich sorgen, oder sie müssen sich eingestehen, dass sie eine andere Gruppe als minderwertig wahrnehmen. Wenn die Menschen eine Vorstellung davon haben, was gut sein soll und sich selbst als gut wahrnehmen wollen, schreiben sie sich entsprechende Begriffe zu. Entscheidend ist für sie das Gefühl. Wenn jemand keinen Hass gegenüber Menschen anderer Hautfarbe empfindet, tendiert die Person daraus zu schliessen, sich auch nicht diskriminierend zu verhalten und entsprechend auch nicht rassistisch zu sein. Ob sie sich auch entsprechend verhalten, wollen sie dann nicht prüfen.
Die eigene Güte nicht prüfen zu wollen, da sie ausser Frage steht, gipfelte unter anderem in der Vertuschung von Kindesmissbrauch durch Kirchen, weil die Institution nicht nach ihren Taten, sondern nach ihren moralischen Grundsätzen zu beurteilen wäre. Entscheidend scheint das Bekenntnis zu sein, das Inquisitoren dazu brachte, Menschen zu foltern, um ihnen eine Chance auf das ewige Himmelreich zu geben – eine in dieser Logik moralisch richtige Handlung.
Angriff und Selbstverteidigung
In diesem Sinne ist die Verrohung im Ton, von der viele berichten, eine einseitige Betrachtung. Die Chancen von Menschen verschiedener Gruppen haben sich in den vergangenen Jahrzehnten deutlich verbessert. Der Respekt hat zugenommen – nicht weil mit Etikette und Anstand argumentiert, sondern weil dieser Respekt eingefordert wurde. Doch die formale Gleichberechtigung ist nur ein erster Schritt. Es wird auch eine tatsächliche Gleichstellung eingefordert. Zu diesen berechtigten Forderungen nach Ausgleich für anerkannte Benachteiligungen, die sich kumuliert haben, kommt mit der notwendigen ökologischen Wende eine Aufgabe auf die Menschen zu, die letztlich ebenfalls Verzicht bedeutet – entweder, weil die Menschen den Ausstoss von Treibhausgasen eindämmen oder weil der Klimawandel dazu führt, dass ökonomische Werte, insbesondere landwirtschaftliche Güter aber auch Infrastruktur und Privatbesitz, zerstört wird.
Wenn die Menschen befürchten, etwas zu verlieren, fühlen sie sich angegriffen. Das, was sie dagegen unternehmen, ist mithin Selbstverteidigung. Die kriegerische Metapher zeigt schon, dass in diesem Fall Anstand nur noch bedingt von Interesse ist. Verteidigt werden heute aber vorwiegend Privilegien, die durch die oben genannten Ansprüche gefährdet werden. Entscheidendes Manko bei den Auseinandersetzungen erscheint mir, dass der Schutz von Privilegien – die quasi mit zum Eigentum zählen – zentraler Bestandteil des Kapitalismus ist. Ohne diesen zu kritisieren, läuft eine Kritik am mangelnden Anstand ins Leere, da der Anstand der Gesellschaft im Sinne von Respektieren legitimer Ansprüche nicht zur Disposition steht. Erschwerend kommt hinzu, dass das Gefühl und das Bekenntnis, nicht das Handeln in unseren Breitengraden – einer biblischen Kultur, deren erstes Gebot sich im Bekenntnis ausdrückt – als entscheidend wahrgenommen wird.
Arschlöcher und Wahrheit
Welche Ansprüche gerecht sind, meint jede Seite einfach begründen zu können. Allzu einfach machen es sich unter anderen die Libertären, die jedes Rütteln daran, der Markt führe zu gesellschaftlich erwünschten Ergebnissen, dogmatisch ablehnen. Mit der Emanzipation verschiedener gesellschaftlicher Gruppen hat dieses Märchen jedoch dunkle Flecken bekommen. Trotzdem findet kaum eine grundlegende Debatte über gesellschaftliche Grenzen hinweg statt. Mit den Schwierigkeiten, Ressourcen für alle bereitzustellen, verhärten sich die Fronten. Ebenso findet keine Auseinandersetzung mit dem Theismus statt, der sich schon länger als soziale Gruppen mit dem Strafgesetzbuch gegen Angriffe wehrt.
Anstand kann in einer solchen Situation durchaus eine sinnvolle Handlungsempfehlung sein. Eine ausgrenzende Komponente gilt es dabei weiterhin möglichst zu vermeiden. Doch Anstand könnte dazu beitragen, eine Deeskalation einzuleiten. Zwar verhalten sich viele Menschen wie Arschlöcher, das, was aus ihnen herauskommt, stinkt im übertragenen Sinne. Man könnte sich allerdings darauf beschränken, den Inhalt zu kommentieren. Erfolgreich muss eine solche Verhaltensweise nicht sein. Man sollte es jenen, die sich wie Arschlöcher verhalten, aber auch nicht zu einfach machen, sich einer Antwort zu enthalten, indem sie auf den fehlenden Anstand eines Vorwurfs verweisen können. Auf Anstand zu pochen, macht aber wenig Sinn. Auf Fragen, wie sie sich aus den oberen Ausführungen ergeben, nicht zu antworten oder ausweichend zu antworten, dürfte kaum als unanständig gelten. Es ist aber respektlos, nicht einmal den Anspruch auf eine Antwort anzuerkennen.

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