Gewöhnlich wird eine Utopie im Sinne einer idealisierten Gesellschaft an der Möglichkeit gemessen, wie weit sie in der Realität umgesetzt werden könnte – ob die Voraussetzungen, die getroffen werden, damit die Gesellschaft funktionieren kann wie dargestellt, in der Realität vorhanden sind (oder inwieweit es plausibel ist, dies in Zukunft zu erreichen). Beispielsweise kann sich die Frage stellen, ob die Menschen jene Qualitäten aufweisen, die erforderlich sind, damit sie sich entsprechend den Anforderungen verhalten. Das kann unter anderem eine bestimmte Gefühlswelt der Menschen voraussetzen, damit ihre Tätigkeiten beispielsweise die versprochene Befriedigung liefern und sie deshalb kein Interesse haben, aus den Strukturen auszubrechen.
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Das «Star Trek»-Universum bietet einen anderen Zugang: Im US-amerikanischen Science-Fiction-Franchise «Star Trek», insbesondere in der Fernseh-Serie «Star Trek: The Next Generation» (Deutsch: «Raumschiff Enterprise – Das nächste Jahrhundert»), auf die sich die folgenden Ausführungen beziehen, bestehen tiefgreifende Diskrepanzen zwischen dem Anspruch und der Wirklichkeit innerhalb der Serie. Die bedeutendste Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit besteht bezüglich der angeblichen Zielsetzung des Raumschiffs «Enterprise» und was die Besatzung tatsächlich macht. Immer wieder wird betont, dass das eigentliche Ziel der Mission, auf der sich die «Enterprise» befindet, – das Streben der Menschen überhaupt – ist, andere Zivilisationen kennenzulernen und von ihnen zu lernen. Doch von anderen Zivilisationen gibt es offenbar nichts zu lernen, die menschliche Lebensweise erweist sich immer als überlegen, rückständig sind die Menschen höchstens in wissenschaftlichen oder technologischen Belangen. Diese und verschiedene weitere Diskrepanzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit – insbesondere bezüglich der Chancengleichheit zur Selbstverwirklichung für Personen unterschiedlichen Geschlechts, unterschiedlicher «Rasse» und verschiedener Spezies – beschreibt Holger Götz in seiner Magisterarbeit «“Star Trek – The Next Generation“ als Paradigma konservativer Kulturkritik» (Grin Verlag, München, 2000) auf globaler Ebene.
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Dabei bleibt die Beschreibung der gesellschaftlichen Ordnung in der Serie insgesamt äusserst rudimentär. Die Menschen haben sich mit anderen Spezies zu einer «Föderation» zusammengeschlossen. Doch Politik findet wenig statt. Die «Föderation» wird auch (fast) ausschliesslich durch die militärisch organisierte «Sternenflotte», zu der auch das Raumschiff «Enterprise» gehört, repräsentiert. Die gesellschaftliche Utopie ist auch weniger eine ausgefeilte Blaupause zum Nachahmen, sondern ein Puzzle mit vielen fehlenden Teilen, das nur durch einige Grundprinzipien zusammengehalten wird – allen voran dem Wert der Individualität. Das zeigt sich besonders eindrücklich am wahrscheinlich gefährlichsten Feind, den «Borg». Die «Borg» sind Cyborgs verschiedener Spezies, die sie unterworfen und in ein Kollektiv – das auch das Bewusstsein umschliesst – integriert haben. [Erstaunlicherweise verfolgen die «Borg» auch das Ziel, von anderen zu lernen, indem sie diese anderen assimilieren. Aber bezüglich gesellschaftlicher Aspekte – insbesondere das Prinzip der Individualität ist ihnen so fremd, dass sie nicht fähig sind, dieses zu verstehen – sind die «Borg» ebenso erfolglos wie die Besatzung der «Enterprise», sich weiterzuentwickeln.]
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Unfähig zur Reflexion
Wie gering die Bereitschaft ist, über das eigene Verhalten zu reflektieren, zeigt sich besonders an der Folge «The High Ground» (Deutsch: «Terror auf Rutia IV»). Ein Besatzungsmitglied der «Enterprise», die Schiffsärztin Beverly Crusher, und später Captain Jean-Luc Picard werden von Separatisten während einer Mission entführt, bei der medizinischer Nachschub geliefert wird. Der Rebellenführer erklärt Captain Picard (in der deutschen Synchronfassung): «Die Föderation hat vieles, was ich bewundere. Aber in ihrem Umgang mit nicht angeschlossenen Planeten zeigt sie auch eine gewisse Feigheit. Sie macht Geschäfte mit einer Regierung, die uns unterdrückt. Und Sie sagen, Sie sind nicht in die Sache verwickelt. Sie irren sich. Sie stecken schon bis zum Hals drin. Und das wollen Sie nicht erkennen.» Diese Herausforderung, über das eigene Verhalten beziehungsweise die Politik der Föderation zu reflektieren wird jedoch vollkommen ignoriert. Entscheidend scheint nur, dass die Rebellen mit Terror gegen das Regime vorgehen – und damit ihrerseits gemäss Capatin Picard feige agieren. Eine politische Lösung des Konflikts wird es auch nicht angestrebt. Die Geiseln werden durch eine militärische Operation befreit und ein Nachdenken über die Handelspraktiken der Föderation findet nicht statt. Dabei ist das Credo der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten von anderen Planeten der wichtigste politische Grundsatz der Föderation, die sogenannte «Oberste Direktive». Doch dass die Handelspolitik diese Oberste Direktive herausfordert, scheint gar nicht bewusst zu sein.
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Überhaupt entstehen Herausforderung für die Besatzung, die den Plot bestimmen, fast ausschliesslich durch äussere Begebenheiten. Interne Konflikte, die aufkeimen könnten – beispielsweise wird das Entstehen einer möglichen Liebensbeziehung zwischen zwei Besatzungsmitgliedern angedeutet, wobei das eine dieser zwei Besatzungsmitglieder früher mit einem ranghohen Offizier liiert war, der ebenfalls auf dem Schiff dient –, werden durch äussere Bedrohungen fast vollständig überlagert. Das mag teilweise dem Aufbau der Serie als «series» im Unterschied zu «serial» geschuldet sein , da interne Konflikte nicht so leicht in knapp einer Dreiviertelstunde abgehandelt werden können und sie Auswirkungen auf den weiteren Verlauf der Serie haben dürften. Doch das erklärt nicht, weshalb ein direktes «Angebot» zur Reflexion einfach ignoriert wird. [Eine der wenigen Aspekte, die Auswirkungen auf den späteren Verlauf hatten, war die Entdeckung in der letzten Staffel, dass der sogenannte Warp-Antrieb – Voraussetzung für die Möglichkeit von Überlichtgeschwindigkeit und damit dem für die Serie essentiellen Raumflug überhaupt – den Raum zerstört. In der Folge musste immer eine Sondergenehmigung eingeholt werden, wenn die «Enterprise» die Höchstgeschwindigkeit überschreiten sollte, die festgelegt wurde, um die Folgen der Nutzung des Warp-Antriebs zu beschränken.]
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Folter ist doch nützlich
Wie wenig verlässlich die Aussagen von Seiten der Föderation beziehungsweise der Sternenflotte sind, zeigt sich am Umgang mit Folter in der Doppelfolge «Chain of Command» (Deutsch: «Geheime Mission auf Celtris III»). Im ersten Teil begeben sich Captain Jean-Luc Picard und zwei weitere Besatzungsmitglieder auf eine geheime Mission. Sie schleichen sich auf einen Planeten der Kardassianer, mit denen die Föderation einen brüchigen Frieden pflegt. Gemäss Geheimdienstinformationen werden Forschungen mit einer äusserst bedrohlichen Biowaffe betrieben. Ziel der Mission ist es, diese Informationen zu bestätigen und gegebenenfalls das Labor zu zersören. Captain Picard wird jedoch gefangengenommen. Es stellt sich heraus, dass die Geheimdienstinformationen getürkt wurden, um Captain Picard anzulocken und gefangennehmen zu können. Dadurch sollte die Föderation entweder gezwungen werden, den kriegerischen Akt zuzugeben (nur so könnte Captain Picard als Kriegsgefangener betrachtet werden und gewisse Rechte erhalten), damit die Föderation Schwäche zeigt und die Kardassianer im Gegenzug einen umstrittenen Planeten ohne Konsequenzen besetzen können – was die Föderation ablehnt –, oder aus Captain Picard strategische Informationen über die Sternenflotte herauszupressen, um mittels militärischer Massnahmen das angestrebte Ziel zu erreichen. Im zweiten Teil erklärt Captain Picard seinem Folterer (in der deutschen Synchronfassung): «Folter ist noch nie ein verlässliches Mittel gewesen, um an Informationen zu gelangen. Sie ist als Kontrollmittel wirkungslos. Sie wissen nie, ob jemand die Wahrheit sagt. Ich frage mich, wieso sie noch angewendet wird.» Diese Aussage führt Picard jedoch ad absurdum, sie entpuppt sich eher als strategische Behauptung. Am Ende der Folge – nachdem die Föderation die Kardassianer durch einen Präventivschlag (!) in die Defensive gedrängt und Picards Freilassung erwirkt hat – vertraut Captain Picard der Schiffsberaterin an, er wäre kurz davor gestanden, alles zu sagen. Zwar ist nicht klar, was «alles» bedeutet. Jedenfalls scheint er aber Informationen zurückgehalten zu haben, die nützlich für die Kardassianer gewesen wären. Ohne solche Informationen wäre der Widerstand Captain Picards gegen die Befragungen im Übrigen genauso bedeutungslos wie die Folter selbst.
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«Das Ende der Geschichte»
«Star Trek: The Next Generation» zeichnet Umrisse einer Gesellschaft, die vorgibt, sich entwickeln zu wollen, überall aber nur Bestätigung findet, dass Fortschritt – abgesehen von wissenschaftlichem und technologischem – in ihr nicht möglich ist. Die Repräsentanten dieser Gesellschaft zeigen nicht einmal Bereitschaft zur Reflexion. Dabei werden die Widersprüche der liberalen Gesellschaft – weisse, männliche Menschen nehmen die zentralen Positionen ein – weitertradiert. Kommunistische Utopien mögen ein zu optimistisches Bild des Menschen malen – der eben nicht so leicht in einer Gemeinschaft aufgeht, der Partikularinteressen gegen die Gesellschaft verfolgt, auch wenn er fair in diese Gesellschaft integriert ist. Doch in der liberalen Utopie wird vernachlässigt, dass die Menschen soziale Wesen sind. Anerkennung – wesentlich für Möglichkeiten zum Aufstieg – wird auf sozialer Ebene vergeben und hängt nicht nur von der Leistung eines Individuums ab. Gleichberechtigung ist nicht mit Gleichstellung gleichzusetzen. Strukturelle Benachteiligungen zu erkennen – überhaupt Strukturen, die über den offensichtlichen gesetzlichen Rahmen hinausgehen, zu erfassen –, fällt Menschen, die ein (allzu) liberales Weltbild vertreten, offenbar schwer. Ein völlig «individuierter» Mensch lässt sich nicht von Äusserem beieindrucken. Er genügt sich selbst, die Vorstellungen über richtig und falsch, alle «Vorurteile» und Meinungen und die darauf beruhenden Handlungen scheinen aus ihm selbst zu kommen. Dass sich durch gesellschaftskritische Reflexion bei «Star Trek» keine internen Konflikte ergeben – das erscheint tatsächlich utopisch, da es in der Realität genügend Menschen gibt, die in der Lage sind, Mängel dieser Gesellschaft zu erkennen.
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Darüber hinaus sind in der Serie die anderen die Aggressoren, selbst wenn das eigene Verhalten ebenso eskalierend wirkt wie dasjenige des Gegners. Das eigene Verhalten ist deshalb gerechtfertigt, weil die Motive als gerechtfertigt dargestellt werden. Das Verhalten des Gegners ist deshalb verwerflich, weil die Methoden verwerflich sind. Es wird mit zweierlei Mass gemessen. In diesem Sinne wurde allzu oft der real existierende Kommunismus (beinahe ein Kollektiv) mit einem idealen Kapitalismus, dem Imperialismus und Ausbeutung fremd sind, verglichen.
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«Star Trek: The Next Generation» ist ein zeithistorisches Dokument, das eindrücklich die Gefühlswelt weiter Teile der Bevölkerung in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren zeigt – zur Zeit des Zusammenbruchs des real existierenden Kommunismus. Es dürfte kein Zufall sein, dass um jene Zeit auch das berühmteste Werk des Politikwissenschftlers Francis Fukuyama erschienen ist.
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Oder die Wiederholung der Geschichte
Doch die gesellschaftlichen Einblicke haben nicht nur aus historischem Interesse Relevanz. Gerade bezüglich Folter nehmen die USA aktuell eine äusserst problematische Position ein. Mit ihrer maximal zaghaften, konsequenzlosen Kritik spiegelt Europa die Haltung der Besatzung der «Enterprise» wider, die formal Folter verurteilt aber insgeheim doch davon ausgeht, dass sie nützlich ist. «Star Trek: The Next Generation» ist mithin viel weniger Fiktion als auf den ersten Blick, den Blick auf das Genre, das aber nur das Setting bietet. Der Blick auf die Gegenwart durch die Brille der Zukunft – durch die dann vielleicht möglichen Entwicklungen – hält sich auch in Grenzen. Herausragend sind nur Fragen um einen Androiden, der eine hohe Position auf der «Enterprise» einnimmt – an dem erörtert wird, was Leben bedeutet. Zudem zeigt sich am Umgang mit ihm, dass Vorbehalte gegenüber anderem Leben auch in der Menschenwelt noch möglich sind. Weiters baut sich ähnlich wie gegenüber dem Kommunismus auch gegenüber dem neuen «Feind», dem Islamismus, eine ähnlich einseitige Sichtweise auf: Der real existierende Islam, der beispielsweise im Iran, in Afghanistan unter den Taliban oder im Königreich Saudi Arabien verortet wird, wird mit einer idealisierten westlichen Demokratie verglichen – einer Demokratie, der es beispielsweise schwer fallen dürfte, mit einem Königreich Geschäfte zu machen, da «Wandel durch Handel» sich eher als «Mythos» entpuppt, der als Rechtfertigung herhalten muss.
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Wenn es auch bei den Zuschauerinnen und Zuschauern der Fernseh-Serie darum geht, etwas zu lernen, und nicht nur sich zu unterhalten, dann ist diese Serie ein treffendes Beispiel eines kulturellen Produkts, das aufzeigt, wie wenig breit die Menschen sind, etwas zu lernen, wenn es um gesellschaftspolitische Fragen geht. Es reicht, anhand bruchstückhafter Informationen in Einzelheiten die eigene Überlegenheit festzustellen, um die Grundwerte bestätigt zu sehen.
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